In der vergangenen Woche hat mich eine E-Mail erreicht, in der hinterfragt wurde, warum ich Martin Luther an einer Stelle als „großen Reformator“ bezeichne.
Das hat zwei Gründe: Zunächst ist, rein quantitativ, Luther tatsächlich der, dessen „Reformationsbewegung“ am meisten Anhänger gefunden hat. Er war nicht der erste, der an eine Reform der Kirche herangehen wollte. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Jan Hus oder Petrus Waldes waren wesentlich vor ihm am Werk, haben niemals diese Breitenwirkung entfaltet und verirrten sich auf häretische Abwege. Innerkirchliche erfolgreiche Reformen gab es ebenfalls öfter, teilweise von oben her (z.B. unter Papst Gregor I. („der Große“) oder von der Basis aus (Franziskus von Assisi). Die beiden letzteren werden heute als große Heilige verehrt, was beweist, dass Reform an sich der Kirche nicht wesensfremd ist.
Damit sind wir beim zweiten Argument: Luther hat eine innerkirchliche Reform angestoßen (die „katholische Reform“), die mit dem Konzil von Trient begann. Dieses „Tridentinum“ wird heute oft zu Unrecht als Synonym für „vergangenheitslastig“ oder gar „rückschrittlich“ gesehen. Tatsächlich war es ein großer Schritt für die römisch-katholische Kirche, denn es zog unter allerlei Willkür einen Schlussstrich, schaffte Missstände ab und definierte die Eckpunkte des „katholischen“ sauber und einheitlich. Freilich: Unter dem Blick des 21. Jahrhunderts mutet vieles aus den Konzilstexten nicht zeitgemäß an. Aber auch das I. und das II. Vatikanum hatten jeweils ihre Zeit und ihre Rolle in der Kirchengeschichte. Vieles von dem, was für uns heute eine Selbstverständlichkeit ist, wurde von Luther eingefordert – und langfristig von der katholischen Kirche umgesetzt. Die Liturgie in der Volkssprache, Exegese auf der Basis textkritischer Arbeit, die Option für die Armen und anderes mehr sind unter den vernünftigen Reformideen Luthers bereits zu finden.
Dass in Martin Luthers Leben mehrere Phasen unterschieden werden müssen, und dass späterhin seine weitsichtigen Ansätze vom konfliktiven Auftreten, das reflexartig alles verteufelte, was aus Rom kam (ganz wörtlich übrigens); dass er sich und einer Versöhnung mit der römischen Kirche langfristig selbst am meisten im Wege stand, ist unbestritten; ebenso wenig, dass es substanzielle Unterschiede zwischen den reformierten Kirchen und der katholischen Kirche gibt, die theologisch gravierend sind und eine Einheit eher als Vision erscheinen lassen – ich nenne hier die Rolle der Eucharistie mit der fortdauernden Realpräsenz, die Sakramentenlehre, die Rolle der kirchlichen Lehrtradition und das Amt des Papstes. Alles nicht unüberwindlich, aber eher eine Frage von übermorgen als von morgen, euphemistisch gesagt.